Seit der Antike ist
bekannt, dass Tiere Erdbeben im Voraus spüren. Aber bisher war unklar,
was sie dazu befähigt. Jetzt erklärt eine neue Theorie, warum Pferde,
Hunde und Schlangen vor einem Beben verrückt spielen.
Plötzlich waren die Mäuse da. Aus allen Ritzen und
Löchern schossen die grauen Nager hervor und huschten verwirrt durch die
holzgetäfelte Bauernstube. Ein Fall für die Hauskatze – doch die war
spurlos verschwunden und schien sich für die piepsenden Häppchen
überhaupt nicht zu interessieren. Am 6. Mai 1976, einem Donnerstag,
spielten die Tiere im friulanischen Bergdorf San Leopoldo plötzlich
verrückt. Die Schweine wurden aggressiv und bissen sich gegenseitig die
Schwänze ab. Die sonst so feurigen Zuchtstiere hingegen wirkten völlig
apathisch. Abends offenbarte sich der Grund für das ungewöhnliche
Verhalten: Um 21 Uhr erschütterte ein Erdbeben der Stärke 6,5 auf der
Richterskala die italienische Region Friaul. 41 Dörfer wurden zerstört,
fast 1000 Menschen kamen ums Leben. Auch das Geburtshaus von Helmut
Tributsch, Professor für physikalische und theoretische Chemie in
Berlin, brach wie ein Kartenhaus zusammen. Seither beschäftigt er sich
mit der Frage, warum Tiere ein drohendes Erdbeben spüren.
Den ersten Hinweis auf die seismografischen
Fähigkeiten von Tieren lieferte der griechische Geschichtsschreiber
Diodor. Im Jahr 373 v. Chr. wurde die Stadt Helike am Golf von Korinth
nach einem gewaltigen Erdbeben vom Meer verschlungen. Fünf Tage vor der
Katastrophe soll ein Zug von Ratten, Schlangen und Käfern über eine
Verbindungsstraße in das be-nachbarte Koria gewandert sein, um sich
tiefer im Landesinneren in Sicherheit zu bringen. Auch die Römer kannten
»Unheil redende Tiere«, wie sie sie nannten. Wenn sich Hunde, Pferde
und Gänse besonders lautstark gebärdeten, wurden die Sitzungen des
Senats vorsichtshalber ins Freie verlegt.
In Japan ist das ungewöhnliche Verhalten von
Fischen sogar sprichwörtlich. »Wenn der Fisch sich bewegt, dann bebt die
Erde«, heißt es. Einer alten Sage nach soll es ein riesiger Wels in den
Tiefen des Meeres sein, der durch das Schlagen seiner Schwanzflosse
unseren Planeten zu erschüttern vermag.
Auch heute nehmen viele Menschen, die in
erdbebengefährdeten Gebieten wohnen, die Warnsignale ihrer Hausgenossen
ernst. Die Bauern der Anden zum Beispiel halten sich Kanarienvögel als
private Seismografen – sie kündigen die Gefahr von unten durch wildes
Flattern an.
Die Hiobsbotschaften der Tiere können für die
Betroffenen aber auch zur wahren Plage werden. 1783 fand im
sizilianischen Messina ein starkes Erdbeben statt, dem zahlreiche
heftige Nachbeben folgten. Vor jeder neuen Erschütterung hob in den
schmalen Gassen der Stadt ein ohrenbetäubendes Jaulen der Hunde an. Die
Nerven der Bevölkerung lagen blank. Niemand wollte das sirenenähnliche
Bellen mehr hören, wohl wissend, dass es eigentlich vor dem drohenden
Unheil warnte. Die Tiere wurden erschossen.
Wissenschaftler stehen dem tierischen Spürsinn
überaus skeptisch gegenüber. Sie vertrauen lieber auf
Präzisions-Seismometer, Magnetfeldmessungen und Satellitenüberwachung.
Diese Hightech-Geräte haben einen doppelten Nutzen. Zum einen
ermöglichen sie, ein entstehendes Erdbeben schnell zu lokalisieren und
eventuell Evakuierungen rechtzeitig einzuleiten; die Geräte messen
weltweit immerhin durchschnittlich zwei Erschütterungen pro Minute. Zum
anderen erlaubt es die moderne Technik, Prognosen über die
Erdbebenwahrscheinlichkeit in bestimmten Gebieten aufzustellen. In der
Bucht von San Francisco beispielsweise rechnen die Experten innerhalb
der nächsten 25 Jahre mit einem Beben der Stärke 6,8.
Was sich in 100 Kilometer Tiefe genau abspielt und
wodurch ein Erdbeben letztendlich ausgelöst wird, ist aber immer noch
unklar. Die Messdaten weniger Jahrzehnte reichen (noch) nicht aus, um
die komplizierten Vorgänge im Inneren unseres Planeten zu entschlüsseln.
Langfristige Vorhersagen über Epizentrum und Zeitpunkt der nächsten
Erschütterung sind nach wie vor nicht möglich. »Es ist wie im
Straßenverkehr«, sagt Professor Dieter Seidl vom Seismologischen
Zentralobservatorium Erlangen. »Auf Grund der Statistiken wissen wir in
etwa, wie viele Verkehrsunfälle es im Raum Hessen im kommenden Monat
geben wird. Wann und wo genau es das nächste Mal kracht, weiß jedoch
niemand.«
Die einzigen Wissenschaftler, denen es gelungen
ist, Erdbeben vorherzusagen, waren Chinesen. Auch ihnen lieferten nicht
Hightech-Geräte die entscheidenden Hinweise, sondern Tiere. 1974 rief
die chinesische Regierung zum »Volkskrieg« gegen Erdbeben auf, nachdem
Forscher vermutet hatten, in der Provinz Liaoning könne es in den
nächsten ein bis zwei Jahren eine große Erschütterung geben. In
Schulbüchern, Radiosendungen und Abendkursen wurden die Menschen darüber
aufgeklärt, dass sie ein ungewöhnliches Verhalten ihrer Haustiere als
»Warnung« vor einem Erdbeben werten und die Behörden darüber informieren
sollten. Innerhalb weniger Wochen wurden so über 100000
Amateurbeobachter rekrutiert. Anfang Februar 1975 häuften sich nahe der
Stadt Haicheng entsprechende Hinweise. Schulkinder beispielsweise
entdeckten Schlangen, die mitten im Winter aus ihren Höhlen gekrochen
und auf dem kalten Boden erfroren waren. Gleichzeitig beobachteten
Bauern eine Veränderung des Grundwasserspiegels – ein weiteres Anzeichen
für ein drohendes Beben. Daraufhin lösten die Behörden am 4. Februar
1975 um 10 Uhr Katastrophenalarm aus: Menschen, Tiere und
Wertgegenstände wurden in Sicherheit gebracht. Um 19.36 Uhr zitterte die
Erde rund um Haicheng mit einer Stärke von 7,3.
Anderthalb Jahre später, am 27. Juli 1976, schienen
die Tiere ihre seismologischen Fähigkeiten verloren zu haben: Völlig
unerwartet erschütterte ein Erdbeben der Stärke 8,2 die nord-chinesische
Millionenstadt Tangshan. Man sprach von über 600000 Opfern. Erst Jahre
später wurde bekannt, dass die zuständigen Behörden vor der Katastrophe
durchaus Warnhinweise aus der Bevölkerung erhalten hatten – über 2000.
Auf Grund politischer Auseinandersetzungen während der »neuen
Kulturrevolution« waren jedoch viele leitende Beamte entlassen worden:
Niemand fühlte sich für die Meldungen verantwortlich, und so blieben sie
unbeachtet auf den Schreibtischen liegen. Als sich China schließlich
immer mehr dem technologiegläubigen Westen öffnete, wurden die
systematischen Tierbeobachtungen ganz eingestellt.
Die Ursache für das ungewöhnliche Verhalten der
Tiere vor einem Erdbeben war lange unklar. Anfangs glaubte man, sie
würden mit ihren feinen Sinnen leichte Vorbeben spüren. Diese treten
jedoch erst Sekunden vor der eigentlichen Erschütterung auf, während Kuh
& Co. bei einem großen Beben durchschnittlich 20 Stunden vorher
Alarm schlagen. Die Vermutung, dass Tiere Gase riechen oder Schallwellen
hören, die vor einer Erschütterung aus dem Erdinneren austreten, ist
ebenfalls nicht stichhaltig: Auch Singvögel, die bekanntlich nicht
besser hören oder riechen können als der Mensch, erkennen die drohende
Gefahr. Kleine Tiere und solche, die im Wasser leben, reagieren
besonders empfindlich. 58 Tierarten können, so die chinesischen
Behörden, ein nahendes Erdbeben erkennen. Aber woran?
»Ich nehme an, dass Schwebeteilchen der Luft, die
durch elektrische Ströme aus dem Erdinneren aufgeladen werden, die Tiere
beunruhigen«, sagt Helmut Tributsch. Veränderungen der Luftelektrizität
vor einem Erdbeben wurden bereits vom deutschen Naturforscher Alexander
von Humboldt gegen Ende des 18. Jahrhunderts beobachtet. Heute weiß
man, welche Auswirkungen sie auf den Organismus haben: Wenn Lebewesen
positiv geladene Aerosole einatmen, wird das Nervenhormon Serotonin
freigesetzt, das Stimmungsschwankungen und Übelkeit hervorruft. Der mit
Ionen beladene Föhn in Bayern zum Beispiel löst bei vielen Menschen
Migräne aus. Bei Tieren wird zudem das Fell elektrostatisch aufgeladen;
deshalb reagieren kleine Tiere, deren Körperoberfläche im Verhältnis zu
ihrem Volumen relativ groß ist, besonders »gereizt«.
Auch Meerestiere sind, auf Grund der guten
Leitfähigkeit des Wassers, den elektrisch geladenen Teilchen schutzlos
ausgeliefert. Dass die Aerosolkonzentration in geschlossenen Räumen
wesentlich höher ist als im Freien, erklärt den Drang vieler Tiere, aus
ihren Behausungen zu flüchten. Auch vor einem Gewitter ist die Luft
elektrisch aufgeladen. Wahrscheinlich reagieren die Tiere deshalb so
alarmiert, weil sie das nahende Erdbeben für ein drohendes Unwetter
halten.
Wie viel elektrische Ladung aus dem Boden austritt,
hängt von der Gesteinsart und den Wetterverhältnissen ab. Bei Regen
werden die Aerosole neutralisiert und die alarmierenden Signale deutlich
abgeschwächt. Bleibt die Frage, wie die elektrostatischen »Wolken« im
Erdinneren überhaupt entstehen. Einige Wissenschaftler gehen davon aus,
dass in Quarzgestein durch den zunehmenden unterirdischen Druck vor
einem Beben so genannte Piezoelektrizität erzeugt wird. Diese kann durch
Glimmentladung Wassermoleküle zertrümmern und dadurch positiv geladene
Ionen freisetzen. Kritiker dieser Theorie wenden jedoch ein, dass sich
die durch Piezoelektrizität erzeugten elektrischen Felder gegenseitig
neutralisieren, noch bevor Energie in die Atmosphäre abgegeben werden
kann.
Sind die Berichte über Tierwarnungen also doch bloß Hirngespinste?
Nein, sagt NASA-Wissenschaftler Friedemann Freund.
Im »Journal of Scientific Exploration« stellte er kürzlich seine
neuesten Erkenntnisse über die Entstehung Stress auslösender,
elektrostatisch geladener Aerosole vor. Der gebürtige Hesse glaubt, dass
in metamorphen und magmatischen Gesteinen eine ungewöhnliche chemische
Reaktion abläuft, die von den Wissenschaftlern bisher übersehen wurde.
In solchen Formationen verbinden sich die durch Zersetzungsprozesse
entstandenen Hydroxyl-Ionen (OH-) miteinander. Dabei bildet sich
Wasserstoffgas (H2), und die normalerweise zweifach negativ geladenen
Sauerstoff-Ionen (O2-) spalten sich in einfach negativ geladene
Sauerstoff-Ionen (O-) auf. Diese setzen sich dann zu einer so genannten
Peroxybindung (022-) zusammen. Wenn nun der Druck im Erdinneren vor
einem Beben enorm steigt, brechen diese Bindungen auf. Dabei werden –
höchst un-gewöhnlich – die einfach negativ geladenen Sauerstoff-Ionen
(O-) frei, die ungehindert durch das Gestein in Richtung Erdoberfläche
wandern.
Dort angekommen, erzeugen sie ein elektrisches
Feld, das den Luftmolekülen Elektronen entzieht. Auf diese Weise
entstehen Stress auslösende positiv geladene Aerosol-Teilchen – und die
werden von den Tieren wahrgenommen.
Die an die Erdoberfläche wandernden elektrischen
La-dungsträger könnten auch ein anderes Phänomen erklären: die
mysteriöse Erderwärmung vor einem Beben, die den Forschern seit einigen
Jahren Kopfzerbrechen bereitet. Auf Satellitenbildern hatten sie immer
wieder Temperaturerhöhungen von zwei bis vier Grad Celsius festgestellt.
Rätselhaft war, wie sich die Gesteinsmassen in kurzer Zeit so stark
aufheizen konnten. Der NASA-Wissenschaftler meint nun: Wenn die
ungewöhnlichen Sauerstoff-Ionen (O-) an die Erdoberfläche gelangen,
setzen sie sich teilweise wieder zu Peroxybindungen zusammen; dabei wird
Energie frei, welche die äußersten Gesteinsschichten erwärmt und
infrarotes Licht abstrahlt.
Theoretisch könnten solche Temperaturerhöhungen in
Zukunft für die Vorhersage von Erdbeben genutzt werden. Aber: »Uns
fehlen die notwendigen Forschungsgelder, um entsprechende
Untersuchungen durchzuführen«, beklagt Freund. Zudem erstrecke sich die
Erderwärmung vor einem Beben oft über mehrere Hundert Quadratkilometer –
ein zu großes Gebiet, um das genaue Epizentrum zu orten.
Weil sich also auch die objektive Messung der
»Erdbebenwärme« noch nicht in sichere Prognosen umsetzen lässt, macht
sich bei vielen Wissenschaftlern Resignation breit. Vor 20 Jahren schien
die exakte Erdbebenvorhersage nur eine Frage der Zeit zu sein. Heute
setzen die meisten Forscher nicht mehr auf Prognose, sondern vielmehr
auf Prävention: Erdbebensichere Häuser und Notprogramme, die Sekunden
vor der Erschütterung Züge stoppen und Atomkraftwerke ausschalten,
sollen im Ernstfall das Schlimmste verhindern.
Dennoch ist die Idee, Tiere als »Frühwarnsystem«
einzusetzen, noch nicht vom Tisch. Natürlich geht es nicht darum, bei
jedem Hundegebell panisch aus dem Haus zu flüchten. Aber wenn mehrere
Tierarten gleichzeitig Alarm schlagen, ist Vorsicht angebracht. Die
Tierpfleger des chinesischen Volkszoos Tientsin beispielsweise
verwandelten ihren Arbeitsplatz Ende der 1960er Jahre in ein
seismologisches Beobachtungszentrum. Mit Erfolg. Auch heute könnten Zoos
oder Tierheime in erdbebengefährdeten Gebieten eine solche
Zusatzfunktion übernehmen.
Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass die
Forschung über die Verlässlichkeit von Tieren in der Erdbebenwarnung
intensiviert wird. Eva Sargent, Direktorin des Zoos in San Francisco,
auf Anfrage von P.M.: »Versuchsreihen dieser Art sind extrem schwierig
zu realisieren und zeitaufwändig. Aber die Teilnahme an einem solchen
Projekt würde uns sehr interessieren. Grundsätzlich denke ich, dass
nicht eine bestimmte Spezies über besondere Fähigkeiten verfügt, sondern
lediglich einzelne extrem sensible Tiere. Denn mit Tieren ist es wie
mit den Menschen: Einige verfügen über mehr Intuition als andere.«
Vielleicht wäre ja auch eine Kombination von
tierischem Spürsinn und Hightech-Seismografie der Königsweg im Kampf
gegen Erdbeben. Zumindest sollte man nichts unversucht lassen, wenn es
darum geht, Menschenleben zu retten.
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