Samstag, 18. August 2012

Erdbeben: Sind Tiere die besseren Seismografen

Seit der Antike ist bekannt, dass Tiere Erdbeben im Voraus spüren. Aber bisher war unklar, was sie dazu befähigt. Jetzt erklärt eine neue Theorie, warum Pferde, Hunde und Schlangen vor einem Beben verrückt spielen.

Plötzlich waren die Mäuse da. Aus allen Ritzen und Löchern schossen die grauen Nager hervor und huschten verwirrt durch die holzgetäfelte Bauernstube. Ein Fall für die Hauskatze – doch die war spurlos verschwunden und schien sich für die piepsenden Häppchen überhaupt nicht zu interessieren. Am 6. Mai 1976, einem Donnerstag, spielten die Tiere im friulanischen Bergdorf San Leopoldo plötzlich verrückt. Die Schweine wurden aggressiv und bissen sich gegenseitig die Schwänze ab. Die sonst so feurigen Zuchtstiere hingegen wirkten völlig apathisch. Abends offenbarte sich der Grund für das ungewöhnliche Verhalten: Um 21 Uhr erschütterte ein Erdbeben der Stärke 6,5 auf der Richterskala die italienische Region Friaul. 41 Dörfer wurden zerstört, fast 1000 Menschen kamen ums Leben. Auch das Geburtshaus von Helmut Tributsch, Professor für physikalische und theoretische Chemie in Berlin, brach wie ein Kartenhaus zusammen. Seither beschäftigt er sich mit der Frage, warum Tiere ein drohendes Erdbeben spüren.

Den ersten Hinweis auf die seismografischen Fähigkeiten von Tieren lieferte der griechische Geschichtsschreiber Diodor. Im Jahr 373 v. Chr. wurde die Stadt Helike am Golf von Korinth nach einem gewaltigen Erdbeben vom Meer verschlungen. Fünf Tage vor der Katastrophe soll ein Zug von Ratten, Schlangen und Käfern über eine Verbindungsstraße in das be-nachbarte Koria gewandert sein, um sich tiefer im Landesinneren in Sicherheit zu bringen. Auch die Römer kannten »Unheil redende Tiere«, wie sie sie nannten. Wenn sich Hunde, Pferde und Gänse besonders lautstark gebärdeten, wurden die Sitzungen des Senats vorsichtshalber ins Freie verlegt.

In Japan ist das ungewöhnliche Verhalten von Fischen sogar sprichwörtlich. »Wenn der Fisch sich bewegt, dann bebt die Erde«, heißt es. Einer alten Sage nach soll es ein riesiger Wels in den Tiefen des Meeres sein, der durch das Schlagen seiner Schwanzflosse unseren Planeten zu erschüttern vermag.

Auch heute nehmen viele Menschen, die in erdbebengefährdeten Gebieten wohnen, die Warnsignale ihrer Hausgenossen ernst. Die Bauern der Anden zum Beispiel halten sich Kanarienvögel als private Seismografen – sie kündigen die Gefahr von unten durch wildes Flattern an.

Die Hiobsbotschaften der Tiere können für die Betroffenen aber auch zur wahren Plage werden. 1783 fand im sizilianischen Messina ein starkes Erdbeben statt, dem zahlreiche heftige Nachbeben folgten. Vor jeder neuen Erschütterung hob in den schmalen Gassen der Stadt ein ohrenbetäubendes Jaulen der Hunde an. Die Nerven der Bevölkerung lagen blank. Niemand wollte das sirenenähnliche Bellen mehr hören, wohl wissend, dass es eigentlich vor dem drohenden Unheil warnte. Die Tiere wurden erschossen.

Wissenschaftler stehen dem tierischen Spürsinn überaus skeptisch gegenüber. Sie vertrauen lieber auf Präzisions-Seismometer, Magnetfeldmessungen und Satellitenüberwachung. Diese Hightech-Geräte haben einen doppelten Nutzen. Zum einen ermöglichen sie, ein entstehendes Erdbeben schnell zu lokalisieren und eventuell Evakuierungen rechtzeitig einzuleiten; die Geräte messen weltweit immerhin durchschnittlich zwei Erschütterungen pro Minute. Zum anderen erlaubt es die moderne Technik, Prognosen über die Erdbebenwahrscheinlichkeit in bestimmten Gebieten aufzustellen. In der Bucht von San Francisco beispielsweise rechnen die Experten innerhalb der nächsten 25 Jahre mit einem Beben der Stärke 6,8.

Was sich in 100 Kilometer Tiefe genau abspielt und wodurch ein Erdbeben letztendlich ausgelöst wird, ist aber immer noch unklar. Die Messdaten weniger Jahrzehnte reichen (noch) nicht aus, um die komplizierten Vorgänge im Inneren unseres Planeten zu entschlüsseln. Langfristige Vorhersagen über Epizentrum und Zeitpunkt der nächsten Erschütterung sind nach wie vor nicht möglich. »Es ist wie im Straßenverkehr«, sagt Professor Dieter Seidl vom Seismologischen Zentralobservatorium Erlangen. »Auf Grund der Statistiken wissen wir in etwa, wie viele Verkehrsunfälle es im Raum Hessen im kommenden Monat geben wird. Wann und wo genau es das nächste Mal kracht, weiß jedoch niemand.«

Die einzigen Wissenschaftler, denen es gelungen ist, Erdbeben vorherzusagen, waren Chinesen. Auch ihnen lieferten nicht Hightech-Geräte die entscheidenden Hinweise, sondern Tiere. 1974 rief die chinesische Regierung zum »Volkskrieg« gegen Erdbeben auf, nachdem Forscher vermutet hatten, in der Provinz Liaoning könne es in den nächsten ein bis zwei Jahren eine große Erschütterung geben. In Schulbüchern, Radiosendungen und Abendkursen wurden die Menschen darüber aufgeklärt, dass sie ein ungewöhnliches Verhalten ihrer Haustiere als »Warnung« vor einem Erdbeben werten und die Behörden darüber informieren sollten. Innerhalb weniger Wochen wurden so über 100000 Amateurbeobachter rekrutiert. Anfang Februar 1975 häuften sich nahe der Stadt Haicheng entsprechende Hinweise. Schulkinder beispielsweise entdeckten Schlangen, die mitten im Winter aus ihren Höhlen gekrochen und auf dem kalten Boden erfroren waren. Gleichzeitig beobachteten Bauern eine Veränderung des Grundwasserspiegels – ein weiteres Anzeichen für ein drohendes Beben. Daraufhin lösten die Behörden am 4. Februar 1975 um 10 Uhr Katastrophenalarm aus: Menschen, Tiere und Wertgegenstände wurden in Sicherheit gebracht. Um 19.36 Uhr zitterte die Erde rund um Haicheng mit einer Stärke von 7,3.

Anderthalb Jahre später, am 27. Juli 1976, schienen die Tiere ihre seismologischen Fähigkeiten verloren zu haben: Völlig unerwartet erschütterte ein Erdbeben der Stärke 8,2 die nord-chinesische Millionenstadt Tangshan. Man sprach von über 600000 Opfern. Erst Jahre später wurde bekannt, dass die zuständigen Behörden vor der Katastrophe durchaus Warnhinweise aus der Bevölkerung erhalten hatten – über 2000. Auf Grund politischer Auseinandersetzungen während der »neuen Kulturrevolution« waren jedoch viele leitende Beamte entlassen worden: Niemand fühlte sich für die Meldungen verantwortlich, und so blieben sie unbeachtet auf den Schreibtischen liegen. Als sich China schließlich immer mehr dem technologiegläubigen Westen öffnete, wurden die systematischen Tierbeobachtungen ganz eingestellt.

Die Ursache für das ungewöhnliche Verhalten der Tiere vor einem Erdbeben war lange unklar. Anfangs glaubte man, sie würden mit ihren feinen Sinnen leichte Vorbeben spüren. Diese treten jedoch erst Sekunden vor der eigentlichen Erschütterung auf, während Kuh & Co. bei einem großen Beben durchschnittlich 20 Stunden vorher Alarm schlagen. Die Vermutung, dass Tiere Gase riechen oder Schallwellen hören, die vor einer Erschütterung aus dem Erdinneren austreten, ist ebenfalls nicht stichhaltig: Auch Singvögel, die bekanntlich nicht besser hören oder riechen können als der Mensch, erkennen die drohende Gefahr. Kleine Tiere und solche, die im Wasser leben, reagieren besonders empfindlich. 58 Tierarten können, so die chinesischen Behörden, ein nahendes Erdbeben erkennen. Aber woran?

»Ich nehme an, dass Schwebeteilchen der Luft, die durch elektrische Ströme aus dem Erdinneren aufgeladen werden, die Tiere beunruhigen«, sagt Helmut Tributsch. Veränderungen der Luftelektrizität vor einem Erdbeben wurden bereits vom deutschen Naturforscher Alexander von Humboldt gegen Ende des 18. Jahrhunderts beobachtet. Heute weiß man, welche Auswirkungen sie auf den Organismus haben: Wenn Lebewesen positiv geladene Aerosole einatmen, wird das Nervenhormon Serotonin freigesetzt, das Stimmungsschwankungen und Übelkeit hervorruft. Der mit Ionen beladene Föhn in Bayern zum Beispiel löst bei vielen Menschen Migräne aus. Bei Tieren wird zudem das Fell elektrostatisch aufgeladen; deshalb reagieren kleine Tiere, deren Körperoberfläche im Verhältnis zu ihrem Volumen relativ groß ist, besonders »gereizt«.

Auch Meerestiere sind, auf Grund der guten Leitfähigkeit des Wassers, den elektrisch geladenen Teilchen schutzlos ausgeliefert. Dass die Aerosolkonzentration in geschlossenen Räumen wesentlich höher ist als im Freien, erklärt den Drang vieler Tiere, aus ihren Behausungen zu flüchten. Auch vor einem Gewitter ist die Luft elektrisch aufgeladen. Wahrscheinlich reagieren die Tiere deshalb so alarmiert, weil sie das nahende Erdbeben für ein drohendes Unwetter halten.

Wie viel elektrische Ladung aus dem Boden austritt, hängt von der Gesteinsart und den Wetterverhältnissen ab. Bei Regen werden die Aerosole neutralisiert und die alarmierenden Signale deutlich abgeschwächt. Bleibt die Frage, wie die elektrostatischen »Wolken« im Erdinneren überhaupt entstehen. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass in Quarzgestein durch den zunehmenden unterirdischen Druck vor einem Beben so genannte Piezoelektrizität erzeugt wird. Diese kann durch Glimmentladung Wassermoleküle zertrümmern und dadurch positiv geladene Ionen freisetzen. Kritiker dieser Theorie wenden jedoch ein, dass sich die durch Piezoelektrizität erzeugten elektrischen Felder gegenseitig neutralisieren, noch bevor Energie in die Atmosphäre abgegeben werden kann.

Sind die Berichte über Tierwarnungen also doch bloß Hirngespinste?

Nein, sagt NASA-Wissenschaftler Friedemann Freund. Im »Journal of Scientific Exploration« stellte er kürzlich seine neuesten Erkenntnisse über die Entstehung Stress auslösender, elektrostatisch geladener Aerosole vor. Der gebürtige Hesse glaubt, dass in metamorphen und magmatischen Gesteinen eine ungewöhnliche chemische Reaktion abläuft, die von den Wissenschaftlern bisher übersehen wurde. In solchen Formationen verbinden sich die durch Zersetzungsprozesse entstandenen Hydroxyl-Ionen (OH-) miteinander. Dabei bildet sich Wasserstoffgas (H2), und die normalerweise zweifach negativ geladenen Sauerstoff-Ionen (O2-) spalten sich in einfach negativ geladene Sauerstoff-Ionen (O-) auf. Diese setzen sich dann zu einer so genannten Peroxybindung (022-) zusammen. Wenn nun der Druck im Erdinneren vor einem Beben enorm steigt, brechen diese Bindungen auf. Dabei werden – höchst un-gewöhnlich – die einfach negativ geladenen Sauerstoff-Ionen (O-) frei, die ungehindert durch das Gestein in Richtung Erdoberfläche wandern.

Dort angekommen, erzeugen sie ein elektrisches Feld, das den Luftmolekülen Elektronen entzieht. Auf diese Weise entstehen Stress auslösende positiv geladene Aerosol-Teilchen – und die werden von den Tieren wahrgenommen.

Die an die Erdoberfläche wandernden elektrischen La-dungsträger könnten auch ein anderes Phänomen erklären: die mysteriöse Erderwärmung vor einem Beben, die den Forschern seit einigen Jahren Kopfzerbrechen bereitet. Auf Satellitenbildern hatten sie immer wieder Temperaturerhöhungen von zwei bis vier Grad Celsius festgestellt. Rätselhaft war, wie sich die Gesteinsmassen in kurzer Zeit so stark aufheizen konnten. Der NASA-Wissenschaftler meint nun: Wenn die ungewöhnlichen Sauerstoff-Ionen (O-) an die Erdoberfläche gelangen, setzen sie sich teilweise wieder zu Peroxybindungen zusammen; dabei wird Energie frei, welche die äußersten Gesteinsschichten erwärmt und infrarotes Licht abstrahlt.

Theoretisch könnten solche Temperaturerhöhungen in Zukunft für die Vorhersage von Erdbeben genutzt werden. Aber: »Uns fehlen die notwendigen Forschungsgelder,
um entsprechende Untersuchungen durchzuführen«, beklagt Freund. Zudem erstrecke sich die Erderwärmung vor einem Beben oft über mehrere Hundert Quadratkilometer – ein zu großes Gebiet, um das genaue Epizentrum zu orten.

Weil sich also auch die objektive Messung der »Erdbebenwärme« noch nicht in sichere Prognosen umsetzen lässt, macht sich bei vielen Wissenschaftlern Resignation breit. Vor 20 Jahren schien die exakte Erdbebenvorhersage nur eine Frage der Zeit zu sein. Heute setzen die meisten Forscher nicht mehr auf Prognose, sondern vielmehr auf Prävention: Erdbebensichere Häuser und Notprogramme, die Sekunden vor der Erschütterung Züge stoppen und Atomkraftwerke ausschalten, sollen im Ernstfall das Schlimmste verhindern.

Dennoch ist die Idee, Tiere als »Frühwarnsystem« einzusetzen, noch nicht vom Tisch. Natürlich geht es nicht darum, bei jedem Hundegebell panisch aus dem Haus zu flüchten. Aber wenn mehrere Tierarten gleichzeitig Alarm schlagen, ist Vorsicht angebracht. Die Tierpfleger des chinesischen Volkszoos Tientsin beispielsweise verwandelten ihren Arbeitsplatz Ende der 1960er Jahre in ein seismologisches Beobachtungszentrum. Mit Erfolg. Auch heute könnten Zoos oder Tierheime in erdbebengefährdeten Gebieten eine solche Zusatzfunktion übernehmen.

Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass die Forschung über die Verlässlichkeit von Tieren in der Erdbebenwarnung intensiviert wird. Eva Sargent, Direktorin des Zoos in San Francisco, auf Anfrage von P.M.: »Versuchsreihen dieser Art sind extrem schwierig zu realisieren und zeitaufwändig. Aber die Teilnahme an einem solchen Projekt würde uns sehr interessieren. Grundsätzlich denke ich, dass nicht eine bestimmte Spezies über besondere Fähigkeiten verfügt, sondern lediglich einzelne extrem sensible Tiere. Denn mit Tieren ist es wie mit den Menschen: Einige verfügen über mehr Intuition als andere.«

Vielleicht wäre ja auch eine Kombination von tierischem Spürsinn und Hightech-Seismografie der Königsweg im Kampf gegen Erdbeben. Zumindest sollte man nichts unversucht lassen, wenn es darum geht, Menschenleben zu retten.

 

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